Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn gibt einen Einblick in die Möglichkeiten des differenziellen Lernens und erläutert deren Vorteile anhand von Beispielen. (zum Artikel)

„Wenn du unglücklich sein willst, dann vergleiche.“ Dieses chinesische Sprichwort spiegelt auch die Herangehensweise des kindlichen Daseins – nicht zu planen und urteilen, sondern im Moment zu leben und deshalb so effektiv zu lernen. Diese Idee steckt auch im differenziellen Lernen. In der traditionellen Wissenschaft sucht man nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und versucht daraus ein Prinzip für die Masse abzuleiten. Das passiert leider auch in den Bereichen der Trainings- und Sportwissenschaft, wo eigentlich der individuelle Athlet im Zentrum
des Interesses steht. Bei dieser Herangehensweise werden gewisse Teile ausgeblendet und man beschränkt sich auf nur einen ausgesuchten Part. Das traditionelle Training wird meist mit Annahmen gestaltet, weil sie immer schon gegolten haben. Eine der Grundlagen für kreatives Denken und Trainieren ist es allerdings, zurück zu den grundlegenden Annahmen
zu gehen und zu überprüfen, inwiefern sie denn überhaupt für die Fragestellung stimmen. Wenn sie stimmen, kann man versuchen, Erkenntnisse wieder eigenständig abzuleiten, was jedoch selten wieder zu den gleichen Ergebnissen führt. Meist stimmen die Annahmen nicht und selten kommt das gleiche Ergebnis heraus. Dadurch entstehen Innovationen.

Lernraten sinken mit dem Erwachsen werden

Der Traum eines jeden Trainers oder Lehrers ist es, ein Kind in einem Zustand zu bekommen, von dem aus man es formen kann, wie immer man es möchte. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass dies nicht funktioniert und es sogar fatal wird, wenn man versucht, den Kindern zu erklären oder beizubringen, was Kinder eigentlich schon lange können. Seit Menschen Gedenken lernen Kinder im Alter zwischen null und zwei Jahren am
besten. Trotzdem wollen ihnen Erwachsene beibringen, wie man lernt. Wählen wir ein konkretes Beispiel als Analogie: Wenn ein Kleinkind die gleiche Bewegung für zwei und mehr Stunden wiederholen würde, würden wir es zum Neurologen bringen, weil es in diesem Alter „nicht normal“ ist, sich so zu verhalten. Wenn jemand jedoch zwei Stunden hintereinander
z. B. beim Tennis den Aufschlag immer in das gleiche Loch wiederholt, wird es als professionell bezeichnet. Das in diesen beiden Beispielen völlig identische Phänomen der permanenten Wiederholung wird völlig unterschiedlich interpretiert. Ähnliches geschieht, wenn man denkt, dass etwas, das für einen selbst gut war, für andere auch nicht schlecht sein kann. Das ist jedoch einer der größten Fehler, den Wissenschaftler, Trainer und Lehrer begehen. Betrachten wir jedoch natürliches kindliches erhalten, so ergibt sich ein anderes Bild. Ein Charakteristikum von Kindern ist, oft zum Leidwesen der Eltern, dass sie den Eltern nicht gehorchen. Sie brüllen, schlafen mitten am Tag und wachen mitten in der Nacht auf. Darin scheint die Basis für effektives Lernen zu liegen. Vor allem Kleinkinder sind noch im Moment, sind bei sich selbst. Oft beobachtet man dabei, dass Kinder ständig den Ort wechseln, gefühlt, ständig was anderes wollen. Das Lernen von Kindern scheint erfolgreich, weil sie so gut wie nie wiederholen. Betrachten wir die durchschnittlichen Lernraten (Lernfortschritt im Verhältnis zur erforderlichen Zeit) über die verschiedenen Altersstufen hinweg, so zeigen die beiden ersten Lebensjahre die höchsten Lernraten. Bis zum fünften Lebensjahr, in der Kindergartenzeit, werden sie etwas geringer. Bis zum zehnten Lebensjahr, also während der Grundschulzeit, werden die Lernraten nochmal klar geringer und danach, auf der weiterführenden Schule, verschwinden sie nahezu. Mit dem zehnten
Lebensjahr konnte man lesen, rechnen und schreiben. Viel Neues kam danach nicht mehr. Im Augenblick zeichnet sich ein Trend ab, wonach gilt, je länger Kinder im Schulsystem sind, desto stärker sinken die Lernraten.

Was das Gehirn strukturiert

Modelle zur Erklärung der Charakteristika für die ersten beiden Jahre sind in der Neurophysiologie und der Systemdynamik zu finden. Die Neurophysiologie zeigte in den 50ern des letzten Jahrhunderts anhand von Tierexperimenten die Plastizität des visuellen Kortex. Das visuelle System von Katzen entwickelt sich innerhalb der ersten sechs Wochen. Werden den Kätzchen in dieser Zeit ausschließlich vertikale Linien dargeboten, sind sie danach nicht mehr in der Lage, horizontale Linien zu erkennen und würden jede Treppe herunter fallen. Für den Nachweis der Plastizität des Gehirns gab es 1981 den Nobelpreis. in der Konsequenz strukturiert das Gehirn nur das, was ihm dargeboten wird. Wenn ihm also nur Wiederholung desselben Reizes angeboten wird, wird nur dieser Reiz klassifiziert. Und da das Großhirn anatomisch zu 95% strukturell gleich aufgebaut ist, wurden die Erkenntnisse aus dem visuellen System auch im motorischen und somatosensorischen Kortex bestätigt. Nur das, was angeboten wird, wird strukturiert.

Wiederholung ist uninteressant

Lernen verändert das Gehirn, und tut dies lebenslänglich. Im Alter nichts mehr lernen zu können, ist in der Regel eine Ausrede. Der zweite Bereich der Neurophysiologie bezieht sich auf das Potenzialgesetz der neuronalen Adaption. Wenn man die gleiche Zelle mit dem gleichen Reiz wiederholt stimuliert, erfolgen die größten Anpassungen während der ersten drei
Wiederholungen. Unabhängig von der Geschwindigkeit der Anpassungsgeschwindigkeit der Neuronen, ob langsam oder schnell adaptierend, nach drei Wiederholungen ist die Anpassung weitestgehend vollzogen. Dieses Phänomen können wir selbst an uns täglich beobachten.
Morgens, wenn wir uns anziehen, spüren wir noch die frisch angezogene Kleidung. Bis man darauf angesprochen wird, spürt man sie nicht mehr, weil sie für die Haut Reizwiederholung ist. Wiederholung ist für den Körper langweilig und uninteressant. Dies macht auch aus Sicht der Evolution
her Sinn. Wenn man irgendwo im Dschungel nur die Bäume beobachtet, passiert im allgemeinen nicht viel. Sobald sich jedoch etwas bewegt, sollte man achtsam sein, denn das könnte tödliche Folgen haben. Unser ganzer Körper ist auf Veränderung ausgelegt. Zunehmend zeigen Studien, dass monotone Wiederholungen in der Regel zu Krankheiten führen.

Die Bedeutung der Instabilität

Die Systemdynamik befasst sich in erster Linie mit Übergängen. Die statische Systemtheorie hingegen konzentriert sich auf ausgewählte Zustände eines Objekts aus verschiedenen Blickwinkeln. Für die Tätigkeiten von Trainern und Lehrern ist von besonderem Interessse, wie man jemanden von einem in den anderen Zustand bekommt. Die Systemdynamik betrachtet lebende Systeme als welche, die ständig Schwankungen unterliegen. Auf den Menschen übertragen kommen diese
Schwankungen durch jeden Atemzug, mit jedem Pulsschlag, mit jedem Gedanken zustande. Bevor ein lebendes System in einen anderen stabilen Zustand kommt, ist eine starke Zunahme an Schwankungen zu beobachten. Möchte man nun von einer Stabilität A im Rahmen eines Lernprozesses in einen anderen stabilen Zustand B kommen, wird man dies in der Regel
über eine Instabilität erreichen. Der Begriff der Stabilität wird hierbei aus der Mechanik abgeleitet. Stabile Zustände zeichnen sich dadurch aus, dass man viel Energie benötigt, um sie zu ändern. In einen neuen Zustand zu kommen ist ein Charakteristikum von Instabilität, und damit auch der Kern des Lernens. Wenn das System instabil ist, lernt es schneller und leichter, als wenn es in einem stabilen Zustand verbleibt. Ein stabiles System zu verändern kostet viel Energie mit wenig Effekt. Aus klassischer Sicht wird Instabilität als Fehler bezeichnet, weil sie von einem Sollwert abweicht. Beim differenziellen Lernen liegt in einem instabilen System das größte Potenzial, zu lernen. Bestehende Schwankungen bis zur Instabilität zu
verstärken ist zentrales Element differenziellen Lernens.

Die Bedeutung von Schwankungen

Analysiert man Würfe von Speerwerferinnen über Jahre hinweg,
kann man sie wie einen Fingerabdruck einer Werferin zuordnen. So identisch ist der individuelle Bewegungsablauf. Wenn jemand über eine Kraftmessplatte läuft, erkennt man die Bodenreaktionskräfte, die beim jeweiligen Gangmuster wirken. Wenn das von mehreren Menschen oder einer Person mehrmals gemacht wird, sieht man ständig unterschiedliche
Kurven. Keine Kurve ist identisch. Betrachten wir Kinder bei Ihrer Entwicklung bekommen wir einen Hinweis für die Funktion dieses Phänomens. Bis zum 18. Lebensjahr wachsen sie bis zu 10 Zentimeter pro Jahr. D. h. wenn sie etwas lernen und es beim nächsten Mal wiederholen, sind sie vielleicht ein paar Zentimeter größer und das Erlernte funktioniert nicht mehr, weil sich die ursprünglich erlernte Biomechanik verändert hat.
Wenn man Mustererkennungsalgorithmen, wie sie an Flughäfen inzwischen verwendet werden, anwendet, kann man beim Gehen an einem Bodenkontakt eine Person erkennen. Man kann am Gang inzwischen grob erkennen, welche Emotionen und welchen Ermüdungsgrad eine Person hat und sogar welche Art von Musik sie hört. Eine Veränderung des Gangs heißt aber, dass sich die Schwankungen in eine bestimmte Richtung verändern. Diese Schwankungen könnte man gezielt einsetzen, um bei Therapie oder Training in eine bestimmte Richtung zu arbeiten. Auch das Lernen durch viele Wiederholungen kann mit dem Ansatz der verstärkten Schwankungen erklärt werden. Durch viele Wiederholungen ermüdet das
System. Durch die Ermüdung werden die Schwankungen der Bewegungen ebenfalls vergrößert.

Beispiel Fußball: Torschusstraining

Abweichungen liefern dem Trainer die eigentliche Information. Bei einem Torschussexperiment zum Einfluss von vergrößerten Schwankungen auf dem Niveau der Vierten Liga wurde ein Eingangstest gemacht, um die zu testenden Personen anschließend in zwei gleich starke Gruppen einzuteilen. Eine Gruppe trainierte klassisch. Die andere Gruppe trainierte differenziell. Nach der Intervention wurde der Test wiederholt. Es handelte sich um einen Trainingsumfang von 20 Minuten pro Einheit, 6 Wochen lang, über 12 Einheiten, ergänzend zum normal üblichen Trainingsverlauf. Während in der klassischen Gruppe viel wiederholt und korrigiert wurde, wurden beim differenziellen Training Variationen in der Haltung des
Standbeins, des Schussbeins, in der Rumpfhaltung, im Anlauf zum Ball, des Ziels und willkürliche Kombinationen aus den verschiedenen Faktoren umgesetzt. Im Grunde wurde alles gemacht, was normalerweise im Training verboten war. Charakteristisch war es, keine Wiederholung und keine Korrektur zu nutzen. Korrekturen lösen Stress im Gehirn aus und
reduzieren das Maximalkraftniveau um einige zig Prozent. Beim differenziellen Training kann man das Standbein hinter den Ball stellen, steif stellen, in Seitenlage stellen, weit vor den Ball oder weit seitlich vom Ball entfernt. Es wurden auch die Rumpfhaltung, das Schussbein, die Kopfhaltung und die Armhaltung beim Schuss variiert. Das alles ist in klassischem Training zu unterlassen. Die ideale, gewünschte Situation
bekommt man jedoch in keinem Spiel. Neben der Variation des Balles waren auch Variationen im Anlauf, wie verschiedene Armhaltungen, auf einem Bein springen, Anfersen oder mit Side-Steps durchgeführt worden. Aus diesen Möglichkeiten wurden dann beliebige verschiedene Kombinationen kreiert und ausgeführt. Durch das traditionelle Training stiegen einige Ergebnisse im Gegensatz zum Eingangstest leicht an, einige blieben gleich und ein paar fielen ab. Durch das differenzielle Training ist hingegen nur die Leistung eines Spielers gesunken. Ein Spieler blieb auf seinem Ausgangsniveau, aber die Leistung der Mehrzahl stieg an. Die Gruppe mit dem klassischen Training wurde ein wenig besser, die differenzielle Gruppe wurde deutlich besser. Die Gruppe, die alles chaotisch
und falsch trainierte, wurde stabiler und besser. In der Retentionsphase
wurde ein Jahr danach nur noch klassisch trainiert und die Vorteile der vorher differenzielle trainierenden Gruppe vergrößerten sich. Es scheint, dass der Anfang entscheidenden Einfluss darauf hat, was anschließend passiert.

Beispiel Kugelstoßen

In einem anderen Experiment wurde das differenzielle Lernen auf Nachhaltigkeit beim Kugelstoßtraining geprüft. In einer vierwöchigen Interventionsstudie kam es zu ähnlichen Ergebnissen. Die klassische Gruppe stieg in ihren Leistungen während der Aneignung etwas an, jedoch die differenzielle Gruppe hatte deutlich stärkere Wachstumsraten. Nach zwei Wochen Pause war die klassische Gruppe wieder auf dem Ausgangsniveau, wohingegen die Leistungen der differenziellen Gruppe weiter anstiegen. Nach erneuten zwei Wochen Pause blieb die klassische Gruppe weiter auf dem gleichen Niveau. Die differenzielle Gruppe stieg hingegen noch weiter an. Wenn also im Training richtig initiiert wird, bekommt man fast 50 Prozent Leistungssteigerung in der Pause danach noch geschenkt dazu. Das lässt sich nicht bei Wiederholungslernen beobachten. Erinnern Sie sich an ein anderes Beispiel. Sie können vermutlich Fahrrad fahren. Wie haben wir es gelernt? Man hat ausprobiert, ist hingefallen und irgendwann konnte man es. Man kann es auch heute noch, auch wenn man es nie iweder wiederholt hat. Alles, was man selbst lernt, verlernt man nicht. Alles, was einem fremd beigebracht wird, hat eine abfallende Gedächtniskurve. Man kann auch beim Nichtstun lernen, jedoch nur bei entsprechender Vorbereitung.

Auswirkungen mentalen Trainings

Eine weitere Idee war, den Leistungsanstieg in der Phase nach der Aneignung mit mentalem Training noch weiter zu steigern. Deshalb wurde in der Pause während der Erinnerungsphase zusätzlich mentales Training angesetzt. Es gab eine Gruppe mit 30 Anfängern, die alle für sechs Wochen differenziell den Tennisaufschlag trainierten. Danach wurde die Gruppe in drei kleinere Gruppen geteilt. Eine Gruppe trainierte drei Wochen lang nicht. Die andere Gruppe bekam Literatur zum Tennisaufschlag. Die dritte Gruppe trainierte mental, indem sie Videos anschaute, Key Points heraussuchte und diese mental wiederholte. Bei bis zu drei Wochen Pause wird man besser, wenn man vorher entsprechend trainiert wurde. Bekommt man zusätzlich Literatur, ist immer noch ein leichter Anstieg vorhanden. Dieser ist aber schon reduziert im Vergleich zu der Gruppe, die in der Pause nichts tat. Drei Wochen mentales Training in der Pause führte jedoch zur Reduktion der Leistung. Man kann mentales Training fördernd als Ergänzung zu Wiederholungstraining machen. Wenn man wiederholt,
hat man wenige Schwankungen. Wenn man mentales Training dazu macht, nehmen die Schwankungen zu und es hat einen förderlichen Effekt. Wenn man aber viele Schwankungen hat und mentales Training macht, bringt es nichts mehr. Mentales Training hat nicht funktioniert. Das kann im Wesentlichen wieder auf eine falsche Annahme zurückgeführt werden. Wenn angenommen wird, dass das System einer Person nahezu konstant ist, dann macht es Sinn, mit viel Variation anzufangen und dann mit Wiederholungen zu enden. Man spricht ein ganzes Leben lang von „Ich“, obwohl sich alle Atome des Körpers innerhalb von sieben Jahren komplett austauschen. Die Studie zeigt jedoch, wenn man drei Wochen nichts mit seinem Körper macht, ändert er sich. Ob er besser oder schlechter wird, ist erst einmal egal. Mental blieb der Kopf jedoch in dem Zustand von vor drei Wochen, denn man wiederholte ständig das eigene Video, das am Ende der Intervention aufgenommen wurde. Wenn der Kopf nun nicht zum Körper passt, scheint dies nicht optimal für die Leistung. Wenn man hingegen variabel trainiert, kann man auch eine Woche Pause machen und merken, dass man koordinativ nichts verloren hat und dann aber noch die Aggressivität wiedergewonnen hat, um wieder schneller zu sprinten.

Beispiel Ganganalyse

Eine Untersuchung zur Ganganalyse bestätigte die Interpretation, wonach sich unsere Koordination und unser Körper ständig verändert. Dabei wurde untersucht, wie sich das Gangmuster über acht Tage in Folge ohne Intervention verändert. Die Probanden kamen jeden Tag zur gleichen Uhrzeit und gingen 15 Mal über eine Messplatte, wobei Mustererkennungsalgorithmen angewandt wurden. Die gleichen Untersuchungen wurden dann noch innerhalb eines Tages gemacht.
Die Probanden gingen mit 10- bis 90-Minuten-Pausen über die Messplatte. Betrachtet man den Gang einer Person an verschiedenen Tagen, erkennt man sie zu 100 Prozent. Zu 95 Prozent erkennt man den Tag, an dem trainiert wird. Man könnte also sagen: Nach einem Tag veränderte sich das Gangmuster einer Person zu 95 Prozent. Es bleibt aber trotzdem innerhalb
der individuellen Möglichkeiten. Innerhalb eines Tages verändert sich das Gangmuster schon nach einer halben Stunde um 85 Prozent. Selbst das Gangmuster, das Millionen von Wiederholungen aufweist driftet ständig weg, wir spüren es jedoch nicht, weil das Gehirn und ständig „belügt“.
In der Summe ist Lernen individuell und situationsspezifisch. Es wird inzwischen zunehmend bestätigt, dass Wiederholung mit das Schlechteste ist für effektives Lernen. Es geht immer um dynamisch regulierte Variationen. Je länger jemand etwas „einschleift“, desto mehr hat er Probleme, etwas Neues zu lernen. Man behindert zukünftiges Lernen. Eine Analogie im Umgang mit Kindern hilft, dass Bedürfnis nach Wiederholung
aus eine m anderen Blickwinkel zu betrachten. Man liest kleinen Kindern, wenn man sie abends ins Bett bringt, häufig Geschichten vor. Meist sind es Geschichten, die bekannt sind. Kinder wollen eine Wiederholung haben, damit sie ein Gefühl der Sicherheit bekommen. Damit können sie entspannen und schlafen. Sicherheit und Einschlafen sind der eigentliche Sinn von Wiederholungen. Weshalb diese Methode in Schulen so häufig verwendet wird, liegt nahe. Das Durchschnittsgehirn eines Schülers um 11 Uhr vormittags ist nahezu im Tiefschlafzustand. Es scheint, dass wiederholt wird, damit die Schüler einschlafen und nicht merken, dass die Lehrer ein Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen haben.

Übertrag auf den Fußball

Wie man das auf Taktiktraining übertragen kann, wurde bereits mit dem FC Barcelona ausgearbeitet und bei verschiedenen Clubs der Champions League eingeführt. Beim differenziellen Taktiktraining kann man zum Beispiel das Spielfeld in Zonen einteilen, von denen einige nicht bespielt werden dürfen und andere mit Kontaktbegrenzungen oder Aufgaben versehen wurden. Die fortgeschrittene Version ist es, bei jedem Ballwechsel die Aufgaben und Zonen mit zu wechseln. Dadurch wird der Frontallappen des Gehirns in gewissem Maße überlastet. Die guten Spieler sollten wissen, wie sie ein Problem in chaotischen Situationen lösen. Man kann auch Tiefe sowie Breite der Taktikaufstellungen variieren. Es geht im Wesentlichen beim differenziellen Lernen darum, Fluktuationen zu erkennen und sie zu verstärken, anstatt sie zu verringern oder zu unterbinden. Die Aufstellung kann man auch innerhalb eines Spiels variieren. Im Handball ist es nicht unüblich, ständig zwischen 6-0, 4-2, 5-1 oder 3-3 zu wechseln, damit man für den Gegner unberechenbar bleibt. Das bringt gewisse Vorteile und macht flexibler.

Das Optimum der Variation

Hinter allen Lernansätzen steckt eine kleine Wahrheit. Auch beim Wiederholungslernen oder der methodischen Übungsreihe herrscht immer ein bisschen Variation. Auch beim Wiederholungslernen lernt man durch Differenzen. Jedoch sind die Differenzen zu klein, um effektives Lernen zu ermöglichen. Die meisten Schwankungen gibt es jedoch beim differenziellen Lernen. Wenn die Menge der Schwankungen allerdings
zu groß wird, ist das wieder schlecht. Verbindet man in einer Abbildung zum Lernraten-Schwankungsverhältnis alle Lernansätze, führt dies zu einer klassischen Optimumskurve, die unter dem Begriff der stochastischen Resonanz beschrieben werden kann. Diese Kurve hat den Vorteil, dass auch
Phänomene vom unterschiedlichen Lernen bei Kindern und Erwachsenen erklärt werden können. Wenn Kinder wiederholen, dann haben sie immer noch viele Variationen und können daraus lernen. Wenn der Fortgeschrittene oder Erwachsene jedoch wiederholt, hat er so gut wie keine Variation mehr und die Lernraten werden entsprechend schlecht. Der Rückgang der Lernrate scheint daher kein Problem des Alters, sondern der noch vorhandenen Variationen. Wiederholung dient also zum Erhalt von Sicherheit. Bisherige Beobachtungen zeigen, wenn jemand psychisch stabil ist, kann man bei dieser Person motorisch viel variieren. Wenn man aber jemanden hat, der psychisch instabil ist, werden Wiederholungen eingefordert, um das Gefühl der Sicherheit zu erlangen. Damit scheint das
Bedürfnis nach Wiederholung kein motorisches, sondern ein psychisches Problem. Als Übergang für Athleten mit erhöhtem Sicherheits-/Kontrollbedürfnis erreicht man die neue Stabilität auch, wenn die Variationen langsamer erhöht werden.

Reaktionen im Gehirn messen

Die Wirkung von Maßnahmen im Gehirn werden in der Regel durch ein Elektroenzephalogramm festgestellt. Durch Elektroden auf dem Kopf wird Strom gemessen, woraus man Frequenzmuster ablesen kann. Jedes Signal verursacht im Gehirn kann in Frequenzbänder zerlegt werden. Die Frequenzbänder der EEG-Signale unterteilt man grob in Alpha-Zustand
(entspannt), Beta-Zustand (wach und konzentriert), Theta- Zustand (meditativ), Delta-Zustand (Tiefschlaf) und Gamma- Zustand (Stress und Panik). Dabei sind die Alpha-Frequenzen und Theta Frequenzen entscheidend für das Lernen. Ein interessanter Nebeneffekt ist, dass man den Delta-Zustand nachts beeinträchtigt wird, wenn das Handy neben dem Bett liegt. Man braucht diese Delta-Zustand aber, damit der Parasympathikus aktiviert wird, der das Immunsystem aktiviert und bei
der Regeneration hilft.

Zustände ansteuern

In einem Experiment wurde die Wirkung verschiedener Lernansätze auf die Gehirnaktivierung am Beispiel des Aufschlags beim Badminton verglichen. Eine Gruppe trainierte mit Wiederholungen, eine andere mittels Kontextueller Interferenz, eine dritte lernte graduell-differenziell (mit Variationen, die in einer bestimmten, dem Athleten bekannten, Reihenfolge
kommen) und die vierte Gruppe chaotisch differenziell. Beim chaotisch-differenziellen Lernen werden die Variationen in zufälliger Reihenfolge angewandt. Sitzt man vor einer weißen Wand auf einem Stuhl, ist man entspannt kann vermehrt Alpha- und Theta-Frequenzen messen. Beim Wiederholungslernen ist fast keine Veränderung zu beobachten, das Gehirn
bleibt fast vollständig im Beta-Modus. Wechselt man Vor- und Rückhand in Anlehnung an das Kontext-Interferenz-Lernen, hat man eine massive Aktivierung im Gamma-Frequenz-Bereich. Man hat Stress, weil man immer das Ziel treffen will und die Ergebnisse stets mit den vorherigen Aufschlägen vergleicht. Wenn man graduell-differenziell arbeitet, verschiebt sich die Aktivität in Richtung Alpha- und Theta-Frequenzen.
Man ist genau in dem Frequenzbereich, der für Lernen optimal ist. Wenn man chaotisch und unerwartet vorgeht, werden nicht nur die Alpha- und Theta-Frequenzen verstärkt, sondern man bekommt eine Aktivierung aller Frequenzen. Diese Zustände sind vergleichbar mit denen von Mönchen aus
Tibet nach 15 Jahren Meditationserfahrung. Im entspannten Zustand ist man dann hellwach, was massive Konsequenzen hat. Wenn man Theta-Frequenzen erreicht, produziert das Gehirn vermehrt Dopamin. Dopamin ist das Element, das am häufigsten bei ADHS und Parkinson fehlt. ADHS-Symptome können durch dieses Training verschwinden. Mögliche Effekte
einer Anwendung im Bereich Parkinson werden der Zeit überprüft. In letzter Konsequenz kann durch den Körper das Gehirn entsprechend verändert werden. Ein Bereich im Gehirn, der maßgeblich an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt ist, ist die Amygdala. Wenn man z. B.
angeschrien oder gefoult wird, wird die Amygdala aktiviert. Wenn die Amygdala Emotionen aufnimmt, die sie nicht adäquat verarbeiten kann, fängt der Frontallappen an, Stress zu signalisieren. Das verursacht zum Beispiel ein Trainer, wenn er korrigiert oder kritisiert. Aus dem Bereich der Yogaforschung ist bekannt, wenn man zehn Minuten pro Tag den Theta-Zustand erreicht, kann man die Amygdala in vier Wochen anatomisch
signifikant vergrößern und damit psychischen Stressreaktionen
vorbeugen. Dies geschieht nur sehr schwer durch Bewegungswiederholungen, besser durch Meditation oder
differenzielles Training. Diese Erkenntnisse wurden im Bereich des Mathematiklernens angewandt. Eine Gruppe sprang vor dem Mathematikunterricht ganz normal Seil. Die andere Gruppe hüpfte differenziell, auf einem Bein, in Schrittstellung, auf der Außenkante,
auf der Innenkante und diagonal. Fünf Minuten lang wurde sich so auf 15 Minuten Mathematikunterricht vorbereitet. Nach drei Wochen mit vier Mal Mathematikunterricht pro Woche wurde ein erneuter Mathematiktest gemacht. Heraus kamen signifikant bessere Ergebnisse bei der differenziellen Gruppe. Derselbe Effekt kann auch durch Seilhüpfen nach
dem Unterricht erzielt werden. Es geht demnach darum, das Gehirn in einen Zustand zu bringen, in dem es effektiver lernt.

Fazit

Zusammengefasst können also Gehirnzustände mit Hilfe spezifischer
Bewegungen langfristig verändert werden. Damit bekommt Bewegung eine ganz andere Bedeutung für unseren Alltag und vor allem für die Schule. Das Gehirn und der Körper sind ausgerichtet auf Bewegung und nicht nur auf reine Kondition. Training sollte so kompliziert sein, dass der Wettkampf zur Erholung wird. Eine spezifische Überforderung ist dabei wichtig, man muss nicht immer alles verstehen. Es geht darum, durch diese Überforderung den Frontallappen „abzustellen“, damit das Gehirn auf den ganzen Cortex zugreift. Genau darauf zielen Meditationsübungen ab. Mentales Training ist nicht optimal, weil es durch Fokussierung den
Frontallappen zu stark involviert. Zum Abschluss noch eine kleine Geschichte: In Indien geht ein Vater mit seinem Sohn in den Zoo und sieht einen riesigen Elefanten an einem kleinen Pfahl festgemacht. Da fragt das kleine Kind seinen Vater: „Warum steht er da? Im Wald schleppt er Tonnen von Bäumen und jetzt hält ihn ein kleiner Pfahl fest.“ Der Vater erklärt: „Das stimmt, aber, wenn sie hier frisch geboren sind, werden sie direkt an dem Pfahl festgemacht. Sie probieren es zwei oder drei Mal, geben auf und machen es nie wieder.“ Jeder sollte für sich erkennen, welches sein Pfahl
ist, an dem er immer noch festgebunden ist. Es geht weniger darum, dass man etwas Neues lernen muss, sondern darum, die eigenen Blockaden zu beseitigen.

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